31,5 km - 904 HM
Neben mir knurrt es. Ich schrecke aus meinem ohnehin leichten Schlaf hoch. Da ist ein Tier. Irgendein Tier. Meine Urinstinkte funktionieren zuverlässig - ich spüre, wie mein Herz rast. Fight
or flight? Ich entscheide mich dafür, reglos in meiner Hängematte zu verharren. Vielleicht bemerkt "es" mich dann nicht und geht wieder weg. Der Plan geht nicht ganz auf - das Knurren geht in
ein hohes, schrilles Bellen über. Ich liege gefühlt eine halbe Stunde reglos da, dann versuche ich, durch Bewegung im Schlafsack, verbunden mit dem Geraschel des Biwak-Sacks, Eindruck zu
schinden. Immer noch Gekeife. Schließlich reicht es mir - ich will sehen, mit wem oder was ich es da zu tun habe. Ich schalte meine Stirnlampe, luge vorsichtig über den Rand der Hängematte und
sehe - nichts. Das heißere Bellen hält an, irgendwo hier muss "es" sein, aber so sehr ich mich auch bemühe, ich kann kein Tier, keine Bewegung ausmachen. Nach einer gefühlten halben Ewigkeit
entfernt sich das Tier. Das Bellen wird leiser. Es ist kurz nach 4 Uhr, aber an Schlaf ist nicht mehr zu denken. In meinen Adern rauscht das Adrenalin. Und so beschließe ich, früh - sehr früh -
in den neuen Tag aufzubrechen. Immerhin komme ich so noch einmal in den Genuss des Sternenhimmels über mir. Hier, im abgelegenen Lechtal, leuchtet er in seiner ganzen Pracht, und man kann sogar
die Milchstraße erkennen.
Weil ich so früh aufgebrochen bin, erreiche ich schon um 6 Uhr das nächste Dort, Häselgehr. Die Einwohner scheinen noch tief und fest zu schlafen, und scheinbar bin ich die Einzige, die um diese
Uhrzeit unterwegs ist. Eine Bäckerei? Fehlanzeige. Also beschließe ich, mir zur Stärkung ein paar Haferflocken zu kochen. Direkt am Lech steht eine Hollywood-Schaukel aus Holz - ein guter Ort für
ein Frühstück!
Gestärkt mache ich mich wieder auf den Weg. Das nächste Highlight sind die malerischen Doser Wasserfälle, die nur wenige Gehminuten von Häselgehr entfernt liegen. Danach beginnt ein mühsamer
Aufstieg. Vom Lechtal geht es wieder einmal hinauf auf einen Panorama-Höhenweg. Der Weg ist schmal und steinig, und es geht für eine halbe Ewigkeit bergan. Weil ich auf der Südseite des Hangs
unterwegs bin, brennt die Sonne erbarmungslos. Verschwitzt wie ich bin, freue ich mich auf mein nächstes Etppenziel: Das Naturfreibad in Vorderhornbach.
Yippie-Ya-Ya-Yippie-Yippie-Yeah.
Gegen Mittag erreiche ich den idyllisch gelegenen Ort. Weil ich bereits so früh losgelaufen bin, habe ich nun genügend Zeit, mich im Freibad zu erfrischen, eine Kleinigkeit zu essen und meine
verschwitzten Kleider in der Sonne zu trocknen. Ach, und eine Mütze Schlaf hole ich auch gleich noch nach. Erst gegen 15 Uhr breche ich wieder auf. Neu gestärkt geht es Richtung Weißenbach in
Tirol.
Die Landschaft, die ich in den folgenden Stunden durchlaufe, ist faszinierend - wild, rau, und so ganz anders als die Bilderbuch-Berglandschaft der letzten Tage. Der Lech hat sich hier ein
breites Flußbett geschaffen, das er aber gar nicht ausfüllt. Zwischen dem immer noch glasklaren, eisblauen Wasser erstrecken sich weite Kiesbänke; das Ufer ist gesäumt von niedrigen Fichten und
Buschwerk. Irgendwann taucht dann (wieder) eine Hängebrücke auf - diese hier führt bei Forchach über den Lech. Im Unterschied zu anderen Hängrebrücken ist sie wenigstens "historisch" legitimiert.
Nach dem harten Kiesweg genieße ich das Schaukeln und Hüpfen der Brücke unter meinen Füßen - auch wenn der Weg leider nicht über die Brücke, sondern daran vorbei führt.
Nun ist es auch nicht mehr weit bis nach Weißenbach. Kurz vor dem Ort erreiche ich einen glasklaren, himmelblauen Baggersee. Es ist schon nach 18 Uhr, und die meisten Badegäste sind schon weg
oder brechen gerade auf. Mir kommt die Gelegenheit für eine weitere Erfrischung gerade recht, und mit Genuss schwimme ich ein paar Züge auf den See hinaus. Ich fühle mich gut und weiß, dass ich
auch noch die letzten Kilometer bis Weißenbach in Angriff nehmen kann, obwohl die Sonne schon tief steht.
Die Landschaft ändert sich noch einmal, und wieder geht es durch grüne Wiesen, vorbei an kleinen Wäldern und Tümpeln. Dann sind auch schon die ersten Häuser in Sichtweite. Ich habe Hunger und
beschließe, zunächst etwas Warmes zum Essen aufzutreiben und mich erst dann nach einem Platz für die Nacht umzusehen. In einer kleinen Pizzeria esse ich gut und günstig. Als ich fertig bin, wird
es draußen schon dunkel - es ist schon deutlich nach 20 Uhr. Entschlossen gehe ich ein paar Meter aus dem Dorf hinaus und finde bald eine steile Böschung, wo ich im Schutz der Dunkelheit meine
Hängematte aufhänge. Aber spätestens jetzt muss ich mir eingestehen: Nach dem Schrecken der letzten Nacht ist mir nicht wohl dabei! Obwohl das Dorf so nah ist, dass ich die Blasmusik aus dem
Festzelt hören kann, bin ich unruhig. Und dann beginnt es, neben mir zu rascheln. Zu sehen ist natürlich - nichts. Und dann kommt der Punkt, an dem ich dieses "Vagabundieren" satt habe: Ich stehe
auf, nehme meine Hängematte ab und laufe entschlossen wieder dorfeinwärts. Für diese Nacht werde ich mir ein richtiges Quartier suchen!
Aber dann kommt alles irgendwie so ganz anders. In der Nähe der Kirche spricht mich ein seltsamer Typ an, in Parka und Mokassins, mit Berliner Dialekt und einer Plastiktasche voll scheppernder
Wasserflaschen (behauptet er). Er sei von Garmisch hierher gelaufen, wollte heute noch bis nach Stanzach, schaffe das aber nicht und sei nun ebenfalls auf der Suche nach einem Quartier. Na, ganz
toll! Und dann setzt er mich darüber in Kenntnis, dass er schon überall abgewiesen wurde. Irgendwie will ich dem nicht so recht glauben und gehe selbst weiter bis zur nächsten Pension. Der Typ
heftet sich ungefragt an meine Fersen. In der Pension ist man zunächst bemüht, mir zu helfen, aber wie sich schnell herausstellt, sind tatsächlich alle Zimmer im Ort belegt. Irgendwo gibt es noch
ein Doppelzimmer, was ich zur großen Verärgerung des Pensionswirtes aber ablehne. Checkt der denn nicht, dass ich allein unterwegs bin und mit diesem Typ so gar nichts am Hut habe???
Nun habe ich gleich mehrere Probleme auf einmal: Es ist dunkel. Mir folgt ein seltsamer Reisender. Ich will auf keinen Fall eine weitere Nacht im Wald schlafen - erst recht nicht, als der Typ
verkündet, dass er dann wohl einfach "unten am Lech pennt". Kurzentschlossen und schnell, noch bevor der andere checkt, was eigentlich los ist, gehe ich weiter. Bloss erstmal weg und diesen Typ
abhängen! Zwei Querstraßen weiter atme ich erstmal durch - und sehe, wie ein Einheimischer vor mir aus dem Auto steigt und zu seiner Haustür läuft. Beherzt frage ich ihn aufs Geradewohl, ob ich
in seinem Garten übernachten kann. Mir ist mittlerweile alles egal, ich mag nur nicht zurück in den Wald.
Was nun kommt, ist an Großartigkeit eigentlich kaum zu übertreffen: Der Einheimische und seine Frau versuchen mit Feuereifer, mir aus meiner Situation herauszuhelfen. Obwohl es nun schon fast 22
Uhr ist, telefonieren sie noch einmal alle Möglichkeiten ab. Aber es ist nichts zu machen - alle Zimmer sind belegt. Da ruft "die Einheimische" bei ihrer Mutter an, und plötzlich geht alles ganz
schnell: Sie fährt mich mit dem Auto den kurzen Weg zu ihrer Mutter. Diese ist bereits dabei, das Bett im Gästezimmer für mich herzurichten, als wir eintreffen. Völlig spontan, ohne irgendeine
Gegenleistung zu erwarten, stellen die beiden mir einen sicheren Schlafplatz für die Nacht zur Verfügung. Und dass, obwohl ich in meinen langen schwarzen Merinoklamotten um diese Uhrzeit sicher
alles andere als vertrauenserweckend aussehe. Ich bin gerührt, erleichtert - und vor allem sehr, sehr müde. Innerhalb von wenigen Minuten bin ich tief und fest eingeschlafen.