Zum ersten Mal seit einer gefühlten "halben Ewigkeit" wache ich erholt auf. Aber auch nur, weil ich mir meinen Wecker auf 6 Uhr gestellt habe. Ansonsten hätte ich in dem weichen, warmen Bett,
ohne bellende Wildtiere und wilde Wanderer, vermutlich den halben Tag verschlafen. Aber dieser letzte Tag wird es in sich haben - bis Füssen sind es noch 35 km. Alles, was ich in den letzten
Tagen an "Laufzeit" gespart habe, werde ich heute gut machen müssen. Und wer weiß, was der Weg sich heute wieder einfallen lässt!
Ich ziehe das Bett ab und denke dabei über ein Zitat von Rüdiger Nehberg nach, das ich vor einigen Tagen gelesen habe:
"[Wandern] ist die beste Art, ein Land und seine Bewohner kennenzulernen. Wo der Wanderer auftaucht, wird er mit Gastfreundschaft geradezu überhäuft. Denn der Fremde ist nach Einschätzung
der Menschen einer von ihnen, einer, der kein Geld für ein Auto hat, der sportlich ist, der die Strapaze des Marsches nicht scheut, um das fremde Land zu besuchen. Ihm öffnen sich alle
Türen."
Ich bin diesen "Fremden" so unendlich dankbar, dass sie mir für diese Nacht ihre Tür geöffnet haben! Mit diesem Gefühl der Dankbarkeit im Herzen gehe ich los - hinein in den Tag, der gerade
anbricht.
Obwohl ich nach ein paar Metern direkt an einer Bäckerei vorbeikomme, entscheide ich mich gegen die Möglichkeit, hier mein Frühstück einzunehmen. Die Pizza von gestern hat mich nachhaltig satt
gemacht, und frühstücken kann ich auch noch im nächsten Ort, rede ich mir ein. Der Weg nach Höfen ist ereignislos und führt ausnahmsweise direkt neben dem Lech entlang.
In Höfen folgt dann die große Enttäuschung: Es gibt KEIN Café und auch KEINE Bäckerei. Nur eine schnöde Tankstelle. Egal. Die muss jetzt eben reichen. Obwohl die Umgebung wenig reizvoll ist,
lasse ich mir einen Kaffee, eine Schokomilch und eine Breze bestens schmecken. Gestärkt geht es nun weiter Richtung Wängle. Der Lechweg führt in großem Bogen an Reutte vorbei, und natürlich geht
es mal wieder bergauf. Der Weg hinauf zur Costaries-Kapelle ist geradezu atmen(be)raubend steil.
Als ich fast oben bin, höre ich es scheppern. Reflexartig greife ich zu meiner Alu-Trinkflasche, die an einem Karabiner an meinem Rucksack baumelt. Puh - noch da. Doch woher kam dann das
Scheppern? In dem Moment, wo ich mich umdrehe, weiß ich Bescheid: Mein (neuer) Esbit-Kocher, der ebenfalls mit einem Karabiner am Rucksack befestigt war, kullert lustig den Berg hinunter. (Das
Label, mit dem ich den Aufbewahrungsbeutel am Karabiner besfestigt habe, ist abgerissen. Anfängerfehler.) Fassungslos sehe ich dem Kocher hinterher, der die steile Böschung hinab poltert. Und ich
kann nichts tun, außer ihn in Gedanken zu beschwören, er möge doch zu einem Halt kommen und liegenbleiben. Tatsächlich kommt der kleine schwarze "Ball" zum Liegen - allerdings weit, weit unten.
Und so hilft alles nichts: Da mir dieser Besitz wichtig ist, muss auch ich noch einmal hinunter - und anschließend mit meiner "Trophähe" und einem aufgeschrammten Ellenbogen (steile Böschung...)
wieder hinauf.
Der Blick von der kleinen Kapelle könnte den Anstieg lohnen - heute kündet er leider nur vom Regen, der für die nächsten Stunden vorhergesagt wird. Die Landschaft präsentiert sich wolkenverhangen
und grau. Beherzt beginne ich mit dem Abstieg zum Frauensee - ein echtes Kleinod mitten im Wald. Dort gibt es natürlich auch einen Imbiss, und ich lasse mir ein Johannisbeersaft-Schorle
schmecken. Es ist erstaunlich, wie sehr man auf einer langen Wanderung diese scheinbar einfachen Dinge plötzlich wieder zu schätzen lernt.
Vom Frauensee geht es weiter nach Pfahls. Auf dem Weg dorthin komme ich durch ein weiteres Naturschutzgebiet. Dieses hier scheint ein Paradies für Wasservögel aller Art zu sein. Es gibt sogar
einen speziellen Aussichts- und/oder Beobachtungsturm. Danach führt der Weg durch ein Industriegebiet. Ich komme an einem Wegweiser für die Via Claudia vorbei und freue mich darüber, wie über das
Wiedersehen mit einer guten alten Bekannten. Heute führt mich mein Weg aber in die entgegengesetzte Richtung. Kurz nach Pfahls geht es wieder in den Wald hinein. Es ist ungefähr 13 Uhr, als sich
die Himmelsschleusen öffnen. Der unablässige, starke Regen wird den Rest des Tages anhalten. Aber es hilft ja alles nichts - im Hostel in Füssen wartet ein Bett auf mich, und noch bin ich
längst nicht da. Also geht es weiter, auch wenn ich trotz Regenschutz schon bald bis auf die Knochen durchnässt bin.
Im Wald treffe ich auf eine Gruppe rüstiger Rentner, die, genau wie ich, auf dem Weg nach Füssen sind. Ich bewundere sie dafür, dass sie den ganzen Weg gepackt haben - gemächlicher als ich, aber
das scheint überhaupt keine so große Rolle zu spielen. Wir laufen uns im Verlauf des Nachmittags noch des Öfteren über den Weg.
Weiter geht es, hinauf zur Sternschanze. Da ich das Hamburger Äquivalent kenne (und mag), amüsiert mich diese Doppeldeutigkeit. Schnell stellt sich heraus, dass es sich bei dieser Schanze
lediglich um einen Überrest einer Burganlage (?) handelt. Kurz nachdem ich die Sternschanze passiert habe, öffnet der Himmel auch seine letzte Schleuse: Der Regen strömt nur so herab, und zu
allem Überfluss fängt es auch noch an, zu gewittern. Na toll! Und ich stecke mitten im Niemandsland zwischen Deutschland und Österreich fest. Kurz suche ich Zuflucht unter dem Dach einer Scheune.
Als sich das Gewitter zu beruhigen scheint, hetze ich weiter. Hoffentlich ist es bis Füssen nicht mehr so weit!
Ein Trugschluss. Es ist noch weit. Obwohl ich nach dem letzten langen Anstieg der Tour endlich den Alpsee erreiche und durch die Kronen der Bäume Schloss Neuschwanstein erspähen kann, zieht sich
der Weg schier ewig hin. Es geht durch dichten Wald, über nasse Wurzeln und rutschige Blätter, bergab. Oft muss ich an die Rentnergruppe denken - ob sie diese steile Böschung gut bewältigen
können? Auch das Ufer des Alpsees ist so viel länger als erwartet! Ich begegne einem Fischer, der sich freut, dass bei diesem Wetter wenigstens keine Asiaten unterwegs sind und der mein etwas
erschöpftes "Petri Heil!" mit einem fröhlichem "Petri Dank!" quittiert.
Als ich den Alpsee endlich "teil-umrundet" habe, ist der Weg plötzlich gesperrt; wahrscheinlich aufgrund der Sturmschäden der letzten Wochen. Gott sei Dank kenne ich mich in der Gegend
mittlerweile ein kleines bisschen aus und finde ohne große Probleme die "Umleitung" am Schwansee, der sich heute von seiner vermutlich allertrübsten Seite zeigt. In den Pfützen entdecke ich
Blutegel.
Und dann brechen die letzten 5 Kilometer an! In der Realität heißt das: Es geht vorm Abschied noch einmal bergauf. Irgendwann lande ich wieder auf dem "regulären" Lechweg, der mich auf den
Kalvarienberg führt. Dort steht eine kleine Kapelle, und plötzlich gehen die Glückshormone mit mir durch: Ich stimme ein Kirchenlied an, das mir in den Sinn kommt und singe und singe. Für mich
geht meine Reise eigentlich hier oben zu Ende. Ich bin stolz, dass ich es geschafft habe, und dankbar für alle Bewahrung unterwegs. Und unendlich glücklich!
Singend und patschnass geht es in wenigen Minuten hinunter zum Lechfall. Zu meinem großen Erstaunen treffe ich dort auf zwei von vier Rentnern! Zwei Mitglieder der Gruppe haben aufgrund der
schlechten Witterungsverhältnisse das Handtuch geschmissen und sich mitten im Wald von einem Taxi abholen lassen. Die anderen beiden haben sich tapfer durchgeschlagen und dabei noch nicht einmal
von dem gesperrten Weg aufhalten lassen, was erklärt, dass sie nun doch sogar noch etwas schneller "am Ziel" waren als ich.
Ich will nur noch ins Hostel, duschen und etwas Trockenes anziehen. Na ja, essen wäre vielleicht auch ganz nett. Im Hostel stelle ich fest, dass ich über noch genau drei trockene Kleidungsstücke verfüge, die ich alle anziehe. Bevor ich etwas essen gehe, freue ich mich darüber, dass mein Eintrag von Pfingsten noch an der "Gästewand" zu finden ist. Das (asiatische) Essen ist Belohnung und Genuss. Gegen 21 Uhr bin ich zurück im Hostel, verkrieche mich in meine Koje und schlafe ein - in Sicherheit, satt, trocken und mit ganz viel Glück im Bauch.